Hermann Hain - zum Verständnis meiner Person

Hermann Hain: Mein Lebensbild als Christ

Ein zutreffendes Bild meiner eigenen Person möchte ich zeichnen. Es soll helfen, mich zu verstehen und einordnen zu können.

Geboren bin ich 1958 in einem kleinen Westerwalddorf.

Einen ganz wichtigen Einschnitt in meinem Leben gab es mit ungefähr 10 Jahren. Es sind 2 Ereignisse, die zusammen kamen und mein ganzes Leben prägten: Krankheit und Bekanntschaft mit der Bibel. Damals wechselte ich von der Volksschule zum Gymnasium. Weil eine katholische Klosterschule (Marienstatt) sich in geografischer Nähe befand, war die Wahl des Gymnasiums vorgegeben, obwohl ich evangelisch getauft bin. Schlimm war die Einsamkeit, die ich hier empfand, denn von meinem Dörflein war ich in diesem Jahrgang der einzige, der zum Gymnasium wechselte. Ich fand die religiöse Welt, der ich hier begegnete, erdrückend. Ich erinnere mich an die große Kirche mit ihren Heiligenfiguren und den Weihwasserbecken. Ich wurde schwer krank und war sehr hilflos. Ich hatte Durst, der nicht zu löschen war. Dazu kam die Reaktion meiner Eltern, die mir das Trinken verbieten wollten, weil ein Bettnässen fast ständig zu verzeichnen war. Nach einigen Monaten stellte der Kinderarzt einen Jugenddiabetes fest, der mit Insulinspritzen behandelt werden sollte. Mit Schrecken denke ich an den Aufenthalt im Krankenhaus. Die ersten Tage bekam ich einen Mehlbrei zu essen, wobei ich davon ausging, dass das die Nahrung für den Rest meines Lebens sein würde. In dieser Zeit bekam ich ein Lukasevangelium geschenkt, das ich sehr intensiv gelesen habe. Ich hatte keine Gemeinde, deshalb habe ich mir mein eigenes Gottesbild zurechtgebastelt. Es war für mich unverständlich, dass niemand so lebte, wie wenn es Gott gäbe, obwohl sich so viele als Christen bezeichneten. Aber ein Eingriff in das persönliche Leben, der wirklich etwas veränderte, wurde doch überhaupt nicht erwartet. Jesus war in der Gegenwart tot. Er hatte auf der Erde gelebt vor 2000 Jahren, irgendwann in der Ferne stand die „Wiederkunft“ an, aber in der Gegenwart war er nicht zu spüren. Zwar kam ich recht schnell zu einer kompletten Bibel, aber richtig geholfen hat mir das nicht. Der „jüngste Tag“ in der Lutherübersetzung hat die Erwartung an die Wiederkunft in die weiteste Ferne geschoben. Dieses heute nicht mehr verständliche Wort für den „letzten Tag“ hat mir damals viel Hoffnung zerstört, denn das Reich Gottes war nur in der Zukunft zu erwarten. Die Krankheit hat eine besondere Einsamkeit geschaffen, denn ich habe lange Jahre versucht, meinen „Fehler“ zu verstecken.

1976 schloss ich den Besuch des Gymnasiums Marienstatt mit einem vorgezogenen Abitur ab. Obwohl ich damals keinesfalls schon an ein Theologiestudium dachte, waren Griechisch und Deutsch Leistungskurse. In Deutsch haben mich besonders die Interpretationen angezogen. Die Exegese kommt Interpretationen sehr nahe. Leider habe ich damals ein für mich falsches Studienfach, nämlich Zahnmedizin, gewählt, das mich bis nach Berlin führte. 

Um 1980 erfolgte in einer charismatischen Versammlung die Geisttaufe, ein Geschehen, das mich sehr prägte und mir bis heute Kraft gibt (Die verbreitete Benennung Geistestaufe gefällt mir nicht). Jetzt (2020) bin ich wieder zur Bezeichnung Geistestaufe zurückgekehrt, weil es doch erdrückend weit verbreitet ist.

1985 kam es zu meiner Großtaufe (Wassertaufe) in Berlin in einer charismatischen Freikirche, dabei bat ich den Täufer nach der Feier um ein Heilungsgebet unter Handauflegung. „Lass' die Spritze nicht weg.“ Ein „vernünftiger" Rat, den mir der Beter gab, denn damit ist seine Verantwortung weg. Aber ebenso verlor ich durch diesen Satz jedes Vertrauen – nie nochmals habe ich mir die Hand von jemand auflegen lassen. 

Der Jugenddiabetes, mit dem ich fast schon mein ganzes Leben kämpfe, hat mich sehr geprägt. Ein Mensch wird sehr bescheiden, wenn er wegen Unterzuckerung unter seinem Schreibtisch sitzt und ihm stundenlang die Kraft fehlt, vom Boden aufzustehen. Krankheit hat mich sehr geprägt und für dieses Thema nehme ich einen Neuansatz vor: Oliver hieß ein geistlicher Bruder, den ich vor ungefähr 30 Jahren kannte. Er war damals in etwa in meinem Alter, also Mitte 20. Bei ihm ist mir auch nicht der Anflug eines Zweifels gekommen, dass er Christ war. Sein Unterhautbindegewebe war fehlerhaft, aber ich habe angenommen, dass wäre nur ein äußerliches Problem. Er ist aber daran plötzlich gestorben. „Heilung“ ist das Thema, was in mir sehr unterschiedliche Empfindungen hervorruft. Manchmal klappt die Glaubensautomatik, die in charismatischen Gemeinden oft anzutreffen ist, einfach nicht. Hiob drückt das einmal aus und das ist eine Last, die noch zu der Krankheit kommt: „Mein Siechtum steht wider mich auf und verklagt mich ins Angesicht“ (16,8). Manchmal sind Menschen anzutreffen, die mehr oder weniger mit Absicht die Position eines Klägers übernehmen nach dem Motto: Wenn die Heilung nicht funktioniert, kann das nur am mangelnden Glauben liegen. Das wirklich Schlimme ist, was schon von Hiob ausgesprochen wurde: Wenn andere Menschen schweigen, wird der Kranke zu seinem eigenen Ankläger, weil die Grenzen durch den eigenen Körper aufgezeigt werden. Einerseits sehe ich den Zusammenhang von Sünde und Krankheit mit aller Klarheit. Andererseits bin ich sehr empfindlich geworden gegenüber der Überheblichkeit mancher „Geschwister“. Sie haben scheinbar solche Probleme voll im Griff. Wenn ihnen eine Krankheit widerfahren würde, würden sie vielleicht 40mal Heilung proklamieren und die Sache wäre vergessen. Es sind Leute, die für Kinder beten, damit der Schmerz bei einem Unfall verschwindet. Wenn sich aber keine Änderung einstellt und das Kind schreit: „Es tut aber immer noch weh!“ – dann ist es der „Teufel“, der aus diesem kleinen Menschen spricht. Sich selber in Frage stellen, ist dabei ausgeschlossen. Ich habe ja vor vielen Jahren, wie oben erwähnt, für Heilung von meinem Diabetes beten lassen. Nach einigen Monaten, in denen wir als zugehörig zur Gemeinde immer wieder aufgefordert wurden, für Kranke zu beten, höre ich den Menschen sagen, der für mich gebetet hat: „1000mal, wenn ihr für Kranke betet, passiert nichts. Da müsst ihr durch!“ Wenn ich vorher gewusst hätte, dass er auf Kosten anderer Menschen „lernen“ will, wie geheilt wird, hätte ich ihn für mich nicht beten lassen. Er wird im Laufe der Zeit wohl für mehr als 1000 Leute gebetet haben, aber richtigen Erfolg wird er immer noch nicht haben. Manchmal kann man über Heilungen geradezu erstaunt sein, aber Gott will den Kranken helfen, obwohl der Beter nicht nach seinem Herzen ist.

Wenn ich Gott als meinen Vater ansehe, schließt es auch ein, dass ich niemand gefallen muss. Ich darf so sein, wie ich bin und muss mich nicht verstellen. Diese Freiheit schenkt der Glaube an Jesus.